Ausgangssituation
Die Kontaktfläche zwischen zwei Materialien oder Körpern ist ein ganz wesentlicher Einflussfaktor für die Ausprägung wichtiger technischer Grenzflächenphänomene wie Adhäsion, Haftung, Reibung, Verschleiß, Störgeräuschentwicklung, Wärme- und Ladungsübergang. Dabei kann in Abhängigkeit der Material- und Belastungsbedingungen die für die Grenzflächenphänomene entscheidende „wahre Kontaktfläche“ um mehrere Größenordnungen von der nach außen in Erscheinung tretenden „scheinbaren Kontaktfläche“ abweichen. Trotz vielfältiger wissenschaftlicher Untersuchungen und diverser theoretischer Lösungsansätze ist das Thema „wahre Kontaktfläche“ noch nicht erschöpfend behandelt. Vor allem im Bereich der „weichen“ Kunststoffe (mit geringem Vernetzungsgrad und Einsatzgebiet oberhalb der Glasübergangstemperatur), für die viele experimentelle Methoden nicht anwendbar und viele Modellvorstellungen nicht gültig sind, gibt es derzeit noch keine geeignete Methode zur Beurteilung oder Abschätzung der wahren Kontaktfläche.
Projektziel
Ziel des Projektes war es deshalb, wesentliche Charakteristika der wahren Kontaktfläche bei weichen Kunststoffen zu ermitteln und zu quantifizieren. Daraus sollte ein einfaches mathematisches Modell zur schnellen, näherungsweisen Berechnung der wahren Kontaktfläche bei weichen Kunststoffen generiert werden. Anhand von Materialeigenschaften (wie Polymertyp, Deformations- und Adhäsionsverhalten), Strukturparametern auf verschiedenen Größenskalen sowie den Belastungsbedingungen (wirkende Kräfte, Temperatur oder Belastungszeit und –geschwindigkeit) sollte damit die sich ausbildende wahre Kontaktfläche praxisnah abschätzbar sein. Ein solches Modell wäre sehr nützlich für die Entwicklung und Optimierung funktionaler Materialien, da es zukünftig eine wirtschaftsrelevante, modellbasierte Vorhersage verschiedenster Grenzflächenphänomene wie Adhäsion, Reibung, Verschleiß, Stick-Slip, Haptik, Wärmeübertragung oder elektrische Leitung ermöglichen könnte.
Lösungsweg
Aufgrund der Besonderheiten weicher Kunststoffe ist die Anwendung einer einzelnen Methode zur experimentellen Bestimmung der wahren Kontaktfläche nicht ausreichend. Es wurden daher mehrere verschiedene Methoden eingesetzt, um die Kontaktfläche zu charakterisieren. Die Ergebnisse der Methoden sollten unter Berücksichtigung der jeweiligen Grenzen und Annahmen verglichen, geprüft und interpretiert werden. Sowohl experimentelle als auch computergestützte theoretische Methoden kamen zum Einsatz:
die Bestimmung der Adhäsionskraft mit Hilfe des Tack-Tests
die Bestimmung der Reibkraft
die optische Verfolgung der makroskopischen und mikroskopischen Deformation durch eine Glasplatte
die Bestimmung des Kontaktwiderstandes an leitfähigen, durch leitfähige Zusätze leitfähig gemachten oder leitfähig beschichteten Proben
die Analyse von Einzelkontakten mit molekulardynamischen Computersimulationen
die Verfolgung der Kontaktbildung an rauen Kontakten mit molekulardynamischen Computersimulationen
Für die experimentelle Bestimmung der Kontaktfläche wurden dabei definiert hergestellte Modellmaterialien verwendet. Die Modellmaterialien sollten einerseits das Spektrum der weichen Kunststoffe mit unterschiedlichen Anteilen thermoplastischen und elastomeren Verhaltens abdecken und repräsentativ für die industrielle Anwendung sein (PE, Weich-PVC, PU und Silikon), andererseits aber eine möglichst gute Eignung für die Nutzung der oben genannten Messmethoden aufweisen, wie z. B. die Leitfähigkeit oder leitfähige Beschichtung für die Kontaktwiderstandsmessung, eine gewisse Klebrigkeit für die Bestimmung der Adhäsionskraft oder eine geeignete Farbe für die optischen Untersuchungen. Wichtiger Punkt neben der Rezeptur war die gezielte Variation der Oberflächenstruktur. Mittels verschiedener, variabler Einflussparameter wurden bei den hergestellten Modellmaterialien Messgrößen bestimmt, die mit der Kontaktfläche zusammenhängen und deshalb Aussagen zur Abhängigkeit der Kontaktfläche von den jeweiligen Einflussparametern erlauben. Zur Interpretation der Experimente und für ein besseres Verständnis der Prozesse auf der Nanoebene wurden molekulardynamische Computersimulationen herangezogen. Aufgrund der Komplexität gängiger Rezepturen für weiche Kunststoffbeschichtungen und dem in der Regel nicht genau definierten Zustand weicher Kunststoffe auf atomarer Ebene wurden die Computersimulationen an hypothetischen Modellmaterialien durchgeführt. Es war NICHT das Ziel der Simulationen, quantitative Werte für die wahre Kontaktfläche konkreter Systeme unter konkreten Bedingungen vorherzusagen. Stattdessen sollten die Simulationen genutzt werden, um die Kontaktbildung weicher Kunststoffe im Allgemeinen auf atomarer Ebene besser zu verstehen, experimentell beobachtete Phänomene zu interpretieren und (über ggf. auftretende Unstimmigkeiten in der Charakteristik) Fehler oder Grenzüberschreitungen bei den Experimenten zu identifizieren. Die atomare Auflösung der Simulationen erlaubte darüber hinaus die Analyse des Verhaltens der Rauheitsspitzen auf niedrigster Strukturebene. Die Simulationen stellen damit ein wichtiges Bindeglied dar, um die verschiedenen experimentellen Ergebnisse miteinander in Beziehung zu setzen.
ERGEBNISSE | NUTZEN
Beim Laser-Scanning-Mikroskop wurde eine Methode erarbeitet, wie der Kontakt zwischen einer Kunststofffolie und Glas unter Last direkt beobachtet werden kann. Die Kontaktflächen werden dabei als schwarze Flächen auf weißem Untergrund sichtbar und können halbautomatisch quantifiziert werden (s. Abb. 1). Mit dieser Methode wurden Ergebnisse zu Abhängigkeiten zwischen Kontaktfläche, Normalkraft, Oberflächenstruktur und Anpresszeit erhalten, welche qualitativ gut mit den Ergebnissen des Tack-Tests übereinstimmen.
Die Kombination aller experimentellen und simulierten Ergebnisse lässt stark vermuten, dass es im Forschungsvorhaben gelungen ist, mit einer einfachen, sehr glatten PVC-Folie einen vollständigen Kontakt (100% der geometrischen Kontaktfläche) zu einem Silicium-Wafer zu erzeugen. Für weiche Kunststofffolien mit gebrauchsüblichen Oberflächenstrukturen sinkt dieser Prozentsatz in den unteren Prozentbereich, liegt aber immer noch um viele Größenordnungen über dem Wert für harte Werkstoffe. Soweit möglich wurden die gefundenen Zusammenhänge quantifiziert. Mit Hilfe der Simulationen war es außerdem möglich, einfache Näherungsgleichungen zur Beschreibung der Verhältnisse bei der Kontaktbildung auf Nanoebene abzuleiten. Allgemeingültige Zusammenhänge zur Beschreibung der Kontaktfläche auf Makroebene in Abhängigkeit von Material-, Struktur- und Lastparametern konnten allerdings aufgrund der begrenzten Messbereiche der Methoden und der Komplexität der Abhängigkeiten bei der Kontaktbildung noch nicht sicher identifiziert werden. Hier besteht weiterer Forschungsbedarf, um die gefundenen Zusammenhänge zu konkretisieren und zu einem Modell zu verallgemeinern. Mit einem solchen Modell könnten zukünftig Oberflächenphänomene bei weichen Kunststoffen beschreibbar und damit vorhersagbar werden.
Dank
Das Forschungsvorhaben Reg.-Nr.: 49VF190053 „Bestimmung der wahren Kontaktfläche weicher Kunststoffe“ wurde anteilig vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages innerhalb des Förderprogramms „FuE-Förderung gemeinnütziger externer Industrieforschungseinrichtungen – Innovationskompetenz (INNO-KOM) – Modul Vorlaufforschung (VF)“ über den Projektträger EuroNorm GmbH gefördert. Wir bedanken uns für die gewährte Unterstützung.