Ausgangssituation
Leder ist ein begehrter nachwachsender Werkstoff, der vor allem in der Fertigung hochpreisiger Gebrauchsgüter Verwendung findet. Die natürlich gewachsene Lederstruktur macht alle Ledererzeugnisse zum Unikat, bedingt aber auch eine materialinhärente Varianz und ausgeprägte Anisotropie der physikalischen Eigenschaften. Damit das Potential des Leders den Beanspruchungen während der Verarbeitung und des Gebrauchs entsprechend ausgeschöpft werden kann, ist eine fundierte Materialcharakterisierung erforderlich. Die gesamtheitliche Erfassung der strukturbedingten physikalischen Materialeigenschaften von Leder ist jedoch mittels etablierter Standardprüfverfahren nicht vollumfänglich realisierbar, da diese u. a. eine Zerstörung des Untersuchungsmaterials implizieren. Aus der industriellen Massenfertigung ergibt sich die Notwendigkeit, Bauteile am Computer zu entwerfen und deren physikalisch-mechanisches Verhalten vorab numerisch zu beurteilen. Jedoch sind Softwarelösungen für das Flächenmaterial Leder derzeit nicht verfügbar.
Projektziel
Das Projektziel bestand in der Entwicklung einer zerstörungsfreien Methodik zur Quantifizierung der Zug-Dehnungs-Eigenschaften von Leder mittels multiskaliger Simulationsoperationen, um perspektivisch eine vollumfängliche und fundierte Vorhersage des physikalischen Materialverhaltens ganzer Lederhäute entwickeln zu können.
Lösungsweg
Unter Anwendung eines bildgebenden röntgentomografischen Verfahrens und bereits entwickelter materialspezifischer Algorithmen zur ortsaufgelösten, strukturanalytischen Lederuntersuchung sollten relevante Strukturparameter von Leder extrahiert werden. Anhand dieser parametrisierten Strukturdatensätze sollten konkrete Struktur-Eigenschaftsbeziehungen abgeleitet werden. Die ermittelten mikro- und makroskopischen Eigenschaften der Leder sollten anschließend in die Entwicklung eines realistischen Lederstrukturmodells einfließen, um die Grundlage für eine neuartige multiskalige Simulationsanwendung an Leder zu schaffen.
Ergebnisse
Im Rahmen des Forschungsprojektes ist es durch bildgebende Analyseverfahren mittels Mikrocomputertomografie (µ-CT) gelungen, komplette Lederstrukturbereiche sowie entsprechende Substrukturen wie z. B. Kollagenfasern und Kollagenfaserbündel an vegetabil-gegerbten Spaltledern von Fleckvieh und Zebu abzubilden. Unter Verwendung eigens entwickelter, automatisiert operierender Segmentierungs- und Parametrisierungsalgorithmen gelang es, sowohl mikroskopische als auch makroskopische Informationen der hierarchischen Lederstrukturen zu extrahieren. Ergänzt durch umfangreiche physikalisch-mechanische Untersuchungen an einzelnen, aus den Lederproben präparierten Faserbündeln, bildeten die in digitaler Form vorliegenden Strukturdaten (z. B. Volumendichte, Faserbündeleigenschaften, Kontakt- und Verzweigungsgeometrien etc.) die Grundlage für die Erstellung eines stochastischen Lederstrukturmodells. Dieses ermöglichte erstmals die multiskalige Simulation elastischer und viskoelastischer Struktureigenschaften am Beispiel des Zug-Dehnungs-Verhaltens von Leder.
In fortgeschrittenen mathematisch-numerischen Simulationstechniken wurden die sich innerhalb der Lederstruktur ergebenden komplexen Faserbündelkontakte berücksichtigt. Klassisch durchgeführte physikalisch-mechanische Zugversuche zur Validierung der makroskopischen Simulationsergebnisse lieferten sehr gute Übereinstimmungen für die betrachteten Skalen der elastischen und viskoelastischen Verformungsanteile. Rassespezifische sowie sich aus den jeweiligen Entnahmebereichen Rücken, Flanke und Fläme ergebende Unterschiede in den Struktureigenschaften konnten abgebildet werden. In weiterführenden Arbeiten sind die makroskopischen Phänomene der permanenten Deformationen sowie der lokalen Anisotropien in die Simulationsanwendungen weiter zu implementieren.
Danksagung
Das IGF-Vorhaben 19719 BG der Forschungsvereinigung „Forschungsgemeinschaft Leder e. V.“ wurde über die AiF im Rahmen des Programms zur Förderung der „Industriellen Gemeinschaftsforschung und -entwicklung (IGF)“ vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert. Wir bedanken uns für die gewährte Unterstützung.